Schon häufig haben wir uns hier mit der Frage auseinandergesetzt, wie gefährlich es in São Paulo wirklich ist. Wir persönlich empfinden keine unmittelbare Gefahr, wenn wir uns per pedes auf den Straßen bewegen, für manch Andere ist so etwas undenkbar. Auf die Frage, ob es in São Paulo eine Art kollektiver Angst gäbe, bekamen wir neulich eine bejahende Antwort. Denn trotz des Rückgangs der „harten“ Kriminalität seit Anfang des 21 Jhds hat sich die Angst vor Überfällen oder Morden fest in den Köpfen verankert – da ändern auch die positiven Kriminalstatistiken nichts.
Kollektive Angst in Deutschland? Vielleicht vor der Finanzkrise, aber doch sicher nicht vor Überfällen auf der Straße. Wir alle sind zum Glück anders sozialisiert und empfinden eine große und selbstverständliche Freiheit, wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegen. Oder? Diese Freiheit empfinde ich auch und so bin ich letzte Woche losspaziert, um bei uns im Veedel einige Street-Art-Wände für ein Projekt zu fotografieren. Der IPod war auf den Ohren, die Kamera schussbereit in der Hand und die Augen nur auf die möglichen Motive an den Wänden gerichtet. Ganz normal.
Beim Überqueren eine Straße registrierte ich einen Motoradfahrer, der mich musterte. Kurze Zeit später, ich stand gerade in einer relativ ruhigen Gegend, konzentriert auf ein Motiv, kam besagter Motoradfahrer wieder, hielt neben mir und sprach mich an.
Da die Musik ziemlich laut war, konnte ich kein Wort verstehen, dachte aber, der Typ wolle mich anmachen, denn er hatte vorher ziemlich dreist gestarrt. Daher schüttelte ich nur den Kopf, sagte deutlich aber freundlich NÃO (Nein) und ging weiter um die nächsten Motive zu finden. Und ließ ihn stehen, ohne mich umzudrehen – ein klares Signal, nicht weiter gestört werden zu wollen! Ich hab dann auch nicht weiter darüber nachgedacht, bis der Typ wieder auftauchte. Er stand in einiger Entfernung und schaute zu mir herüber, bevor er Gas gab und weiterfuhr. Zum Glück waren viele Menschen unterwegs, sodass ich mich relativ sicher fühlte, obwohl ich ihn bemerkte. Dennoch war mir die Situation nun nicht mehr ganz geheuer und so entschloss ich mich, ruhig aber bestimmt, den Heimweg anzutreten.
Die kürzeste Strecke war parallel zu einer 4-spurigen Schnellstraße, die dann quasi freestyle überquert werden musste, bevor die Treppe zu unserer Straße kam. Kurz vor dem Überqueren, dazu musste ich ein Stück über einen unbefestigten Weg gehen, registrierte ich den Motoradfahrer wieder, nun schon sehr nah hinter mir und da war mir klar: Der will defintiv irgend etwas von dir und der gibt auch nicht auf!
Ich bin rasch über die ersten beiden Spuren, er schaute mir nach wendete und gab Gas und ich wusste, dass er auf die Schnellstraße kommen und mich noch abpassen konnte wenn er fix genug war und eine günstige Ampelphase erwischte. Die brauchte ich aber auch, denn ich war nun auf dem Mittelstreifen und wartete die letzten Autos ab, bevor ich die beiden anderen Spuren, auf denen auch der Motoradfahrer hätte kommen können, überquerte. Da ging mir der Puls und ich fühlte das erste Mal Angst, dass ich es nicht schnell genug schaffen könnte. Wie ein Fuchs bei der Treibjagd. Aber ich war schneller, bin dann die Treppe hoch in unsere Straße und zügig nach Hause und war sehr froh, dass gerade wieder Passanten auf der Straße waren, ich also nicht allein war. Puuuhhhh – in Sicherheit!
Kurz vorm Eingang zu unserem Condominio war er da! Direkt neben mir. Er musste mich gesehen haben und irgendwie von der Schnellstraße aus den unbefestigten Trampelpfad neben der Treppe hochgekommen sein. Er streckte die Hand aus, schaute mich mit verquollenen Augen an und sagte „Camera“. Ich reagierte reflexartig mit „MINHA“ (Meine) und einem bösen Blick und das reichte zum Glück. Er gab Gas und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Erst zuhause, als ich Jo erzählte, was gerade beinahe passiert war, registrierte ich die Brisanz der Situation und was ich für ein Glück hatte. Wenn er gewollt oder über eine Waffe verfügt hätte, hätte ich zumindest beim ersten Versuch seinerseits keine Chance gehabt. So aber, durch die unglaubliche Ignoranz und Angstfreiheit, die ich ihm gegenüber ausstrahlen musste, da ich ihn ja akustisch nicht verstanden und nicht im Traum angenommen hatte, überfallen zu werden, war ich ein ernstzunehmender Gegner und er änderte die Taktik, um mich einzuschüchtern.
Vielleicht gings auch nur um Dominanz, denn ich verstehe bis jetzt nicht, warum er mich beim ersten Versuch nicht attakiert hat. Zum Glück war er nicht jähzornig, denn genauso gut hätte er sich provoziert fühlen können. Hier wird immer geraten: Wenn du überfallen wirst, gib einfach alles heraus und verhandle nicht! Dafür würde ich auch in jedem Fall plädieren! Nur: Dazu muss ja erstmal klar sein, dass man überfallen werden soll 😉 … Tschuldigung, aber das hat alles trotzdem eine gewisse Komik.
Jetzt bin ich um eine Erfahrung reicher und ganz dankbar, dass mein instinktives Verhalten offenbar in diesem Fall richtig war. Dennoch: Solche Touren, also ganz allein mit IPod und Kamera auf der Straße herumdümpeln und in aller Seelenruhe Wände fotografieren, gibts für mich nun leider nicht mehr. Da nehm ich mir demnächst den Jo mit. pe